CoachingDay Spezial: Ein satirischer Kurz-Roman mit offenem Ende zum Bundestagswahlkampf 2025: Diese Geschichte ist ein Werk der Fiktion. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Institutionen oder Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die hier dargestellten Meinungen, Überzeugungen und Handlungen spiegeln nicht zwingend die Haltung des Autors oder der Redaktion wider. Vielmehr ist dieser Kurzroman inspiriert von realen gesellschaftlichen Dynamiken und politischen Strömungen, die uns alle betreffen.

Kapitel 1. / Einleitung
Deutschland im Abwärtsstrudel? Eine Geschichte, die niemand hören will

Während im Hintergrund zu meinem Café Crema eine leise Melodie von Bach aus den kratzenden Lautsprechern dudelt, schweifen meine Gedanken ab. Mein Kopf kreist um ein Interview – ein Interview (wenn man das so nennen kann) mit einem Bundesminister über das Land der Dichter und Denker. Ich muss unweigerlich schmunzeln. Aber das Lachen erstickt sofort in einer mittlerweile allzu vertrauten Mischung aus Frustration und Sorge. 

Ich sitze in meinem Stammcafé in Berlin-Kreuzberg, das sich selbst als „authentisches italienisches Erlebnis“ bewirbt, aber von einem grantigen Berliner betrieben wird, der seinen Espresso mit der Anmut eines Tankwarts zubereitet. „Was soll’s“, denke ich, während ich die künstlich braunen Kaffeeflecken auf meiner Serviette betrachte. Hier ist mein selbstgewähltes Exil – eine Kunstinsel des Wahnsinns in einem Meer aus politischen Absurditäten. Ich bin Anton, Journalist, aber derzeit kein besonders beliebter. Zu viele unbequeme Fragen, zu wenig diplomatische Zurückhaltung. Ein Mann ohne Lager – und das ist in diesen Zeiten gefährlicher als jeder Extremismus.

Draußen prasselt der Regen gegen die Fensterscheiben. Menschen hetzen vorbei, eingewickelt in ihre Sorgen, den Kopf gesenkt, als könnten sie der Wirklichkeit so entkommen. Auf der anderen Straßenseite tapeziert eine Gruppe Wahlhelfer Laternenpfähle mit Plakaten, die mich an die letzte Verlosung beim Bäcker erinnern: „Ein starkes Deutschland!“, „Für ein sicheres Morgen!“, „Werte. Sicherheit. Zukunft.“ Ich nehme einen weiteren Schluck meines Kaffees, der mittlerweile die Temperatur eines schlechten Witzes erreicht hat, und notiere in meinem Notizbuch: „Propaganda ist nicht mehr subtil, sondern verzweifelt.“

Kapitel 2
Brot und Spiele 2.0

Hinter den Plakataktivisten erkenne ich eine dieser „modernen Stadtbäckereien“, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Wieder einmal Anfang des Monats?! Denke ich sarkastisch bei mir und schüttele den Kopf über die Massen, die sich in diese Aufbacklounges zwängen. Früher ging es um Qualität, heute um Verpackung und Unterhaltung. Auf dem Fernseher in der hintersten Ecke blitzen Vorankündigungen des Champions League Achtelfinals auf – spektakuläre Regelbrüche für Zuschauer. Ein Sportevent jagd den Nächsten. Ich kritzle in mein Notizbuch: „Brot und Spiele 2.0.“

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Ein Termin blinkt auf dem Bildschirm: Interview mit Bundesminister Schulte – Thema: Deutschland, das Land der Dichter und Denker. Ich kann nicht anders als laut auf zu lachen. 

Welche Dichter? Welche Denker? Das Land versinkt in populistischen Chaos, und ich soll ein Gespräch führen, als wären wir noch das geistige Zentrum der Welt. Ein Land, in dem Diskussionen über Kunst und Philosophie längst durch Twitter-Shitstorms und ideologische Gräben ersetzt wurden. Ich klappe wieder mein Notizbuch auf und beginne zu schreiben. “Vom Land der Dichter und Denker zum Volk der Verblendeten”

Die Worte meines Großvaters klingen noch immer in meinem Kopf. 

„Deutschland war das Zentrum der Welt. Kant, Goethe, Schiller, Einstein. Unsere Köpfe haben die Moderne geschaffen!“ Er saß dabei auf seiner abgewetzten Couch, einen Schwarztee in der Hand, den er sich viel zu stark gesüßt und mit frisch gepresster Zitrone gepimt hatte, und schaute auf das alte Bücherregal, in dem die gesammelten Werke von Thomas Mann und Bertolt Brecht standen. „Und was haben wir heute?“ hatte er dann immer gefragt. „Instagram-Philosophen und Politiker, die kaum ein Buch gelesen haben.“ Damals hatte ich gelacht. Heute weiß ich, dass er recht hatte.

Ich sehe mich im Café um. Ein paar Touristen, ein Student mit AirPods, der auf seinem Laptop tippte, eine Frau mit Kopftuch, die sich mit wilden Gesten angeret mit ihrer Freundin auf Arabisch unterhält. Ich kenne sie ganz gut. Es ist Ayse, eine sehr nette Frau. Wir haben schon oft miteinander gesprochen. Ich weiß genau worüber sie sprechen. Immer wieder fällt der Name Bari. Bari ist ein gemeinsamer Bekannter. Ein Geflüchteter ohne Asyl. Er kommt aus Afghanistan. Ayse hatte mir davon berichtet, dass er abgeschoben werden soll. Das würde seinen sicheren und vermutlich sehr qualvollen Tod bedeuten.
Der Kellner – ein Mitte-Dreißiger mit Hornbrille und nachlässig gestutztem Bart – blättert durch eine Ausgabe der taz und kommentiert laut mit seinem stumpfen Berlinerisch, dass alles besser wäre, wenn wir wieder mehr daran glauben, dass Schuster bei seinen Leisten bleiben sollte.

Kapitel 3
Wahrheit = Ladenhüter?

Plötzlich klingelt mein Handy. Paul. Paul ist einer meiner ältesten Freunde aus der Studienzeit. Wir haben uns in Leipzig kennengelernt, als wir beide noch glaubten, Journalismus könnte die Welt verändern. Heute arbeitet Paul bei einem großen Nachrichtenportal – einer dieser Medienkonzerne die sich noch „unabhängig“ nennen, obwohl sie in Wahrheit von den Budgets ihrer Kunden, Anteilseignern und politischen Strömungen abhängig sind.

„Anton, hast du kurz Zeit? Ich könnte mal wieder deine Hilfe gebrauchen.” 

„Hab ich je eine Wahl?” Paul übergeht meinen Sarkasmus wie immer gekonnt. „Hör zu, du hast doch so viele gute Kontakte in der Politik, oder?“ “Könnte sein, warum? Wen genau meinst du?“ „Jemanden, der mir erklären kann, warum dieser Wahlkampf der dümmste der Geschichte ist.“

Ich lehne mich zurück und betrachte die Straße. „Das weißt du doch selbst, Paul. In Zeiten von Internet und Medienformaten wie Nachdenkseiten oder Jung&Naiv liegen die nachvollziehbaren Inhalte quasi nur so herum. Aber die Leute wollen halt etwas anderes glauben. Oder, wann war deine letzte Bundestagsdebatte live bei Phoenix? Habt ihr nicht bei Euch Leitfäden, wie mit Themen redaktionell umgegangen wird?“ Paul hört sich verwundert an: “Was meinst Du, Anton?” „Na, zum Beispiel Staatsräson, Haftbefehl gegen Netanjahu und Nord Stream!“ 

Paul lacht etwas überheblich und trocken und übergeht meinen Trigger gekonnt: „Ja, passt schon, aber ich brauche ein Zitat. Ein Politiker, der offen zugibt, dass hier nur noch leere Versprechungen und Feindbilder zählen. „Niemand traut sich, Klartext zu reden.“ 

Ich nehme einen weiteren Schluck meines lauwarmen Kaffees. “Das sind ja ganz neue Töne, verkauft sich wohl nicht mehr, der alte Ranz”, grummele ich vor mich hin. „Ich kann dir vielleicht den Schulte besorgen.”

Paul stöhnt. „Nicht der.“ „Warum nicht? Er ist doch perfekt. Ein Minister ohne Rückgrat, ein wandelndes PR-Statement mit Anzeichen einer islamophoben Einstellung. Zuhause die Frau am Herd und den niedlichen Vorgarten in einer Doppelhaussiedlung. Staatsräson Yippiehhurra und Mitverfasser der Antisemitismusresolution. Kaum ein Politiker mit Rang verkörpert aktuell den Zustand dieses Landes besser als er.“

Paul schweigt einen Moment. Dann seufzt er. „Okay. „Hol mir Schulte.“ 

Ich lege auf und tippe eine Nachricht an einen alten Kontakt in Schultes Ministerium. 

Kapitel 4
Interview, oder nicht Interview – das ist hier die Frage

Drei Stunden später sitzt Schulte mir gegenüber in einem sterilen Konferenzraum. Das Ministerium für Kultur und Medien – ein Hochhaus mit zu viel Glas und zu wenig Charakter. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, seine Krawatte ist dezent gemustert. Ich überlege, warum ausgerechnet er dieses Ministerium unter sich hat. Die Frage verwerfe ich sofort wieder. Welche Ministerien sind dieses Mal schon sinnvoll besetzt?! Das Gesundheitsministerium vielleicht. Aber der Rest? Schulte sitzt kerzengerade, wie ein General. Glaube ich zumindest. Keine Ahnung wie Generäle sitzen. Seine Hände liegen ordentlich auf dem Tisch, als wäre das bedeutungsvoll. 

„Ganz schöne Sicherheitsvorkehrungen beim Einlass in ihr Ministerium, Herr Minister, so kenne ich das bisher gar nicht von Ihnen.” 

“Sie wissen doch, der islamistische Terror lauert in diesen Tagen überall! Und nein, das war kein offizielles Statement, bevor sie fragen.” Schulte lächelt mich verschmitzt an und legt seinen Kopf etwas verlegen auf die rechte Schulter. Er wirkt im wahren Leben überhaupt nicht so Ziel verhärtet wie in den zahlreichen Talkshows. Eher wie ein sympathischer, ruhiger Familienvater im oberen mittleren Alter. Ich räuspere mich. 

“Na gut, fangen wir an.“ Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, Deutschland sei immer noch das Land der Dichter und Denker. Glauben Sie das wirklich?“ 

Schulte räuspert sich. „Natürlich. „Deutschland hat eine lange kulturelle Tradition, und noch heute…“ 

„Aber wir haben doch längst aufgehört zu denken. Wir sind ein Volk der Talkshows und Schlagwörter geworden, meinen sie nicht?“ 

Schulte zieht die Augenbrauen zusammen. „Ich weiß nicht, ob ich das so sagen würde.“ 

„Doch. Es ist doch offensichtlich. Der Wahlkampf besteht nur noch aus Feindbildern. Rechts gegen links, arm gegen reich, Klimaschützer gegen Wirtschaftslobby. Niemand redet über echte Lösungen, die auch finanzierbar sind, alle sind irgendwie ideologisch weit weg von der Realität und den Bürgern. „Warum?“ 

Schulte verschränkt die Arme. „Weil einfache Antworten und Grabenkriege in diesen Zeiten besser funktionieren.“ 

Ich blicke ihn fassungslos an und freue mich insgeheim über diese Aussage. „Ist das Ihr offizielles Statement?“ 

Wieder huscht ein verschmitztes Lächeln über Schultes Gesicht, wieder diese verlegene Haltung. „Natürlich nicht!“ 

“Herr Minister, ich gehe davon aus, dass sie meine Art gerade etwas forsch empfinden. Das ist eigentlich nicht meine Art.” 

“Kein Problem“. Ich weiß ja, dass sie nicht zu meinen größten Fans gehören.” Er wirkt irgendwie vertrauenserweckend, wenn man ihn privat erlebt. Ja, er hat seine Meinungen…ich merke, wie mein Puls runterfährt. Es scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Ich höre es in seiner Stimme. “Ich kenne sie als investigativen Journalisten.“ „Sie würden nie etwas veröffentlichen, was nicht stimmt.” Ich fühle mich ein wenig gerührt von seinen Worten und halte einen kurzen Moment inne. Ich weiß gerade nicht, warum ich diesen Politiker nicht mag. „Können Sie mir auf Anhieb drei deutsche Persönlichkeiten der heutigen Zeit nennen, die sich in die Riege der großen deutschen Dichter und Denker stellen lassen?“ 

Scheinbar war mein Interviewpartner nicht auf diese Frage vorbereitet. Aus dem Weg gehen kann er mir diesbezüglich nicht. Minister Schulte lässt sich Zeit mit einer Antwort und wirkt nachdenklich. Dann folgt die Antwort: „Vielleicht die Ex-Kanzlerin, Angela Merkel? Oder Helmut Schmidt? „Naja, der ist ja noch nicht so lange weg.“ 

Er wechselt in einen ironisch unterlegten Ton. „Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus und der Müller, der von den Bayern.” 

Während mir die Kinnlade auf den Boden fällt, lacht er sympathisch und selbstsicher, in einer bewundernswerten Ruhe.

„Darf ich Sie zitieren?“ frage ich ihn verwundert über seinen lachsen Umgang dem Thema.

„Natürlich nicht!“ Er übergibt mir ein Statement der Presseabteilung und hebt seine Hand wie ein Aufruf zum Übertreten. Das Gespräch entwickelt sich in ein belangloses Geplänkel. Der Herr Minister ist für meine weiteren Fragen immun. Nach dem Gespräch weiß ich es wieder! Ich mag ihn einfach nicht. Ein glitschiger Riesenzitteraal im Porzellanladen. Während ich mir die Szene bildlich vorstelle schreibe ich Paul eine SMS: „Schulte = Zeitverschwendung!“

Ich verlasse das Ministerium und gehe durch das graue Berlin. Ich ertappe mich selbst dabei, wie in Budgets unterteile, statt mich an den tatsächlichen Inhalten zu orientieren, die mir in solchen Situtationen vermittelt wurden. Ein Zustand, der mich in letzter Zeit öfter einholt. Das Wetter passt zu meiner Stimmung. In meiner Tasche mein Notizbuch, gefüllt mit Zitaten, die niemand hören wird. „Deuheutschlaaand das Land der Prehessehefreiheiiit…“, summe ich vor mich her und unterbreche mich mit meinem eigenen Lacher. Dann erinnere ich wieder die Worte von Minister Schulte: „Alles nur Spaß. In dem Pressestatement steht alles, was ich dazu ebenfalls meine.“ “Immer das Gleiche!” Ich trete in mein Café, bestelle einen neuen Kaffee, und als ich mein Notizbuch aufschlage, beginne ich einen neuen Eintrag: „Deutschland – das Land der Halbwahrheiten.“

Ich habe mir angewöhnt, den Fernseher in meinem Wohnzimmer nicht mehr einzuschalten. Zu viel Lärm. Zu viel Hysterie. Wenn Nachrichten zu einem Dauerfeuer an Empörung mutieren, bleibt keine Zeit mehr für Nachdenken. Ich besorge mir die wichtigsten Infos im Internet. Unsere Nachrichten sind doch eh mittlerweile gleichgeschaltet und zu wichtigen Themen weit von der internationalen Presse entfernt. Manchmal schaue ich mir mehrere Nachrichten hintereinander an, s’gibt ja Mediatheken. Es ist faszinierend, wie weit die deutsche Berichterstattung von dem entfernt ist, was überall auf der Welt berichtet wird. Ich sitze auf meiner Couch, das Notizbuch aufgeschlagen, während aus dem Nebenzimmer meine Frau mit unserer Tochter diskutiert. Es geht mal wieder um die Hausaufgaben. Mein kleiner frecher Liebling. 15 Jahre, rebellisch und ein Herz wie ein Löwe – so ist sie, Marie wie sie leibt und lebt. Ich erinnere mich an ein Tiktok-Video, dass sie mir letztens gezeigt hat. Ein User hat ChatGPT befragt, wie er die deutsche Gesellschaft abhängig machen, unterwandern, spalten und die Macht übernehmen kann. Die Parallelen zu unseren heutigen Situationen waren beeindruckend. Wir haben das dann auch versucht und das Ergebnis war sehr ähnlich. Die Ähnlichkeit zur Realität mit den Medien war verblüffend.

Kapitel 5
Was ist Überallfaschismus?

Draußen zieht ein Demonstrationszug vorbei. Die Rufe der Menge dringen durch die geschlossenen Fenster: „Nieder mit Faschismus, Nazis raus!“ Nie wieder Faschismus! Nazis raus! Die Brandmauer muss stehen! Nie wieder ist jetzt! Nur die Linke! Grün ist die Zukunft!“ Es ist ein Durcheinander aus Parolen, die sich gegenseitig übertönen. Aber, nie wieder Faschismus? Ich stehe auf und trete ans Fenster. Die Straße ist gesäumt von Polizeiautos, deren Blaulicht den leichten Niesel in ein surreales Neonlicht taucht. Ein Plakat flattert im Wind: „Wählt die Wahrheit!“ – als ob irgendjemand wüsste, was das überhaupt noch bedeutet. Nicht eine Palästinaflagge ist zu sehen – nicht erwünscht hieß es seitens der Organisatoren im Telefonat mit einem Kollegen aus einer meiner Netzwerk-Redaktionen. Man wolle keine Auseinandersetzungen unter den Teilnehmern und mit der Polizei riskieren. „Wo fängt Faschismus an und wo endet er?“ frage ich mich grübelnd. Während ich auf die Menge starre, träume ich vor mich hin und erinnere mich an die Schlagzeilen von Vorgestern über einen deutschen Satiriker. Wenn er die Lichter der Demo am Brandenburger Tor sieht, fühlt er sich an Bilder von der SA erinnert. Ich schmunzle und denke über seine Worte nach. Ich schreibe Paul eine SMS: „Wo fängt Faschismus an und wo endet er?“ Ich nehme mein Notizbuch und notiere: “Faschismus existiert sicher – erkennen wir ihn rechtzeitig?”

Kapitel 6
Kinder an die der Macht

Meine Tochter stürmt ins Wohnzimmer, ihr Gesicht rot vor Empörung. Offenbar hat sich die Diskussion mit ihrer Mutter etwas zugespitzt. „Papa, du glaubst nicht, was heute passiert ist!“ Sie setzt sich schwungvoll auf unseren Lehnsessel. Was der schon alles ausgehalten hat, denke ich besänftigend vor mich hin und halte ihren Druck kommentarlos aus. Sie ist einfach bezaubernd, wenn sie wütend ist, fällt mir auf. Die Lippen bockig zusammengepresst, die Arme verschränkt, die Stirn voller kleiner Runzel. Und dann ihre wilden goldblonden Löckchen dazu. Ich atme zufrieden durch und mache einen seufzer der Erleichterung. „Unser Lehrer hat gesagt, dass wir gegen Rechts auf die Straße müssen. Alle! Das sei unsere Pflicht!“ Ich schaue sie an. „Und was hast du zu ihm gesagt?“ Sie verdreht die Augen. „Dass ich es vielleicht nicht mache. Und dann haben mich alle angesehen, als wäre ich eine Verräterin. Nur weil ich gefragt habe, warum wir nicht gegen alle Extreme demonstrieren. Herr Achims hat gesagt, dass palästinensische Farben und Symbole nicht erlaubt sind. Wir dürfen nicht „Stoppt den Völkermord“ und so was rufen.“ Ich atme noch einmal tief durch. Ich weiß, Populismus beginnt nicht erst in den Parlamenten. Er beginnt auch im Klassenzimmer. „Mein Lieblingslehrer war richtig sauer auf mich, das habe ich genau gemerkt. Er sagt, ich soll das mit Euch besprechen.“ „Was möchtest Du, mein Schatz?“ „Ich möchte auch gegen rechts demonstrieren, aber nicht, wenn dabei Gaza verheimlicht wird. Ich möchte aber auch keinen Stress mit meinem Lehrer und meinen Freunden.“ „Ich bespreche das später mit Deiner Mama“, sage ich ihr und nehme sie in den Arm. Ich kenne keinen anderen Menschen, der so voller Liebe ist, wie meine Tochter. “Kinder an die Macht”, denke ich vor mich hin und verwerfe diesen Gedanken gleich wieder. Sind es denn nicht eine Art große schlecht erzogene und sicher auch teilweise verhaltensgestörte Kinder, die heute unsere Politik bestimmen?!

Später sitze ich in der Küche mit meiner Frau. Der Geruch von frisch aufgebrühtem Tee mischt sich mit dem Duft von verbrannten Toasties – ein Zeichen dafür, dass sie wieder zu abgelenkt war, um auf die Toasteruhr zu achten. „Ja, wieder! Und ja, ich stehe auf verbrannte Toasties! Punkt!“ „Ich habe gar nichts gesagt“, wirft Sarah mir lachend rüber. „Wir wissen beide, was Du gedacht hast, mein Schatz!“ antworte ich.
„Jetzt reicht uns wohl der Journalist nicht mehr, Herr Gedankenleser“. Wieder einmal wird mir klar, was ich für ein Glück habe. Sarah ist mein geliebtes Weib. Sie kneift mich jedesmal, dass ich blaue Flecken bekomme, wenn ich das ausspreche. Wir kennen uns schon seitdem wir denken können, sind als Nachbarskinder aufgewachsen und gleicher Jahrgang. Manchmal ist es wirklich so, als könnten wir gegenseitig unsere Gedanken hören. „Ich mache mir Sorgen um sie“, sage ich. „Wieso?“ Sarah dreht sich zu mir, nimmt meine Hand und schaut mir liebevoll in die Augen. „Weil sie nicht mitrennt?“ flüstert sie mir mit ihrer engelsgleichen Stimme zu. „Ja“, sage ich. „Weil sie denkt.” ich halte kurz inne, “und sich traut, ihre Meinung zu sagen.“ Meine Frau nickt und stellt den Tee in die Spüle. Dann gießt sie uns ein Glas Rotwein ein. Wir teilen uns bei Rotwein immer das Glas, wenn wir zusammen sind. Das haben wir gemacht, seit dem wir als Kinder zu Silvester heimlich zusammen das Glas ihrer Oma leergetrunken haben. Das war vielleicht eklig. Aber es hat uns einander näher gebracht. Wie so vieles, was wir zusammen erlebt haben.
Sie kommt hinter mich, krault meine Nackaare. Ich ertappe mich, wie kurz so etwas wie einen Grunzer vor Entspannung loslasse. Ich weiß, sie liebt es. Ich liebe es auch. Alle sagen immer, wir wären das perfekte Paar. Stimmt! Ich glaube daran, dass sie mein Seelenzwilling ist und wie füreinander gemacht sind.
„Weißt du“, sagt sie. „Ich habe das Gefühl, dass wir mitten in einem Experiment sind. „Dass wir einfach nur beobachten können, wie sich alles wiederholt.“ Ich seufze. „Weißt du, was das Schlimmste ist?“ „Was?“ Ich starre auf mein Notizbuch. „Dass wir es wissen. „Und nichts tun.“ Sie setzt sich auf meinen Schoß und wir nehmen uns in den Arm. Schweigen. Minutenlanges Schweigen. Und trotzdem weiß jeder genau, was der andere denkt.

Kapitel 7
Morgenstund hat Gold im Mund

Am nächsten Morgen beim Frühstück schlage ich meiner Tochter vor, mitzugehen und im Herzen gegen alle Extreme zu demonstrieren. Meine Frau und ich haben in der Nacht zuvor noch einmal ausführlich über das Thema gesprochen. Auch über Bari. Den Afghanen, der abgeschoben werden soll. Was soll aus Menschen wie ihm werden, wenn sich eine rechte und asylfeindliche Politik weiter durchsetzt?’”Hast Du Angst, dass er sich radikalisiert?” Hat Sarah mich gefragt. Ich verneinte. Sein Glaube verbietet es ihm zu stehlen, oder gar mit einem Messer oder einer Schusswaffe einen Menschen zu verletzten. Bari ist sehr gläubig. Die meisten Afghanen, die ich kenne, sind es. „Schreibe dir die Parolen doch auf”, schlage ich Marie vor, “und stecke sie in die Tasche. Die Welt besteht nicht nur aus Gaza, es geht um alle Menschen. Jede Demo gegen Ausgrenzung ist wichtig. Du wirst dort vielleicht Menschen mit einer anderen Meinung zu Gaza treffen. Stehe zu Deiner Meinung und kämpfe gegen rechts. Du bist damit sicher nicht alleine.“ „Aber Papa, wäre das nicht mal ein Thema für Dich? Vielleicht sind es ja viel mehr, die nicht alles sagen dürfen, was sie wollen. Und du hast noch gar nichts über die Probleme der Palästinenser veröffentlicht. Wofür bist du Journalist geworden?“ fordert sie mit ihren großen funkelnden Augen. Meine Tochter! Es könnte so einfach sein. Aber das ist es nicht. Die Wahrheit wird nicht mehr gekauft. Ich muss die Brötchen verdienen. Mit meinem Buch bin ich nicht mal zur Hälfte fertig. Sarah ist immer noch in der Reha-Phase. Long Covid. Trotz Impfung! „Das werde ich tun, ich verspreche es dir! Sobald Mama wieder…“, und im gleichen Moment spüre ich, dass mir die gleichen Fesseln anliegen wie vielen anderen in diesem Land und ich die gleichen Argumente heranzuziehen versuche. Ich korrigiere, „…Quatsch, ich mache es und werde mir die Zeit dafür nehmen.“ Und ich nehme mir vor, wieder mehr zu riskieren. „Wenn alle Stricke reißen, machen Mami und ich einfach unser Traumcafé in Prenzelberg auf und ich schreibe die Bücher, die ich mir vorgenommen habe.“ Marie und Sarah nehmen mich von beiden Seiten in den Arm und geben mir einen schweigenden und liebevollen Kuss auf jede Wange. Ich schlage mein Notizbuch auf und notiere: „Deutschland, das Land der Dichter und Denker – Kehrtwende!“

Kapitel 8
Dichter und Denker, nur anders

Es ist spät am Nachmittag. Fast schon früher abend. Uhrzeit? Keine Ahnung. Handy in der Tasche. Wird langsam dunkel. Ich treffe einen alten Freund in einer Bar am Alex. Erik, früher ein Idealist, jetzt ein resignierter Akademiker hinter den Fassaden der Republik. Mir erzählt er alles, egal was. Hundertprozentiges Vertrauen. Zu Recht. Aber das ist gegenseitig.
Die Bar ist eine von vielen in Berlin, die nach Mainstream Manier durchgestylt wurde und hauptsächlich mit Lounge-Stil, Designer Bieren, exklusiven Prosecco Sorten, Aperol Spritz und schwarzen Strandkörben bei ihren Gästen punktet. Die Strandkörbe sollen original vom Scharbeutzer Ostseestrand stammen.
Erik ist einer meiner besten Freunde. Er möchte sich neuerdings immer hier treffen, wenn er mit mir etwas unter vier Augen besprechen möchte. Ich weiß beim besten Willen nicht warum.
An den Wänden hängen Bilder von Goethe, Einstein, Günter Grass, daneben einige Fotos mit Unterschriften. Lothar Matthäus, Völler, Klitschko, Uwe Seeler… „Passt ja!“, sage ich, als ich Erik begrüße. „Was passt?“ Wir machen unser gewohntes Begrüßungsritual, das wir uns bei früheren Basketballspielen angewöhnt haben. Erik und ich waren einige Jahre im selben Verein. „Ach, nicht so wichtig,“ sage ich, massiere meine rechte Hand unauffällig unter dem Tisch und denke an das Interview mit dem Schulte. Welche Ironie. „Na, tut unsere Hand wieder weh?“ Erik grinst mich an. „Ja!“, stöhne ich. Erik ist 2,06 m groß und besteht aus 140 kg, heute untrainierter und verdichteter Puddingmasse. Pudding und die Fliehkraft, das hat Wirkung. Pranken wie ein Gorilla und Kraft wie zwei Pferde. Jedes Mal knallt er beim Handshake mit voller Kraft rein und freut sich wie ein kleines Kind an Weihnachten.
Erik bestellt für uns das Bier des Tages. Wir bekommen Kölsch. „Ist schon wieder Karneval?“ frage ich Erik schnippisch. „Wow, du bist aber gestresst. „Was los?!“ Erik nimmt einen kräftigen Schluck und starrt verblüfft auf sein leeres Glas. 

„Ich mache mir Sorgen, Erik. Deutschland verändert sich, aber nicht zum Guten. Erik schaut von seinem Glas auf und sieht mich mit gerunzelter Stirn an. „Ja, Anton, wir auch. Früher haben wir mit den Menschen in der Kneipe über Philosophie und Politik diskutiert“, sagt er. „Jetzt sitzen wir in schwarzen Strandkörben in einer Lounge und reden über Bier und Karneval.”
„Wie lange haben wir noch?“ frage ich. 

Erik schnaubt. „Bis die Mitte völlig zerstört ist? Vielleicht zwei Jahre. Vielleicht weniger.“ 

Meine Gedanken schweifen ab und ich erinnere mich an unsere langen Abende mit vielen Diskussionspartnern. An meine Ostseeurlaube als Kind. An Sonne, warmen Sand unter meinen Füßen und bunte Strandkörbe.
„Und dann?“ komme ich wieder zum Thema zurück. Er hatte sich bereits ein neues Kölsch bestellt und nimmt einen vorsichtigen Schluck. Dann lehnt er sich auf seine Ellenbogen und kommt dichter mit seinem Gesicht an mich heran. „Dann haben wir nur noch Extreme. „Und eine Generation, die nichts anderes kennt. AfD?“ 

Ich lehne mich zurück. Ich atme tief durch und merke, wie mich seine klaren Aussagen irritieren. Bilder von meiner Tochter kreisen in meinem Kopf. „Was ist mit den Dichtern und Denkern geworden?“ „Sie sind noch da. Aber ihre Perspektive hat sich geändert“, antwortet Erik gelassen.”Du musst das heute anders sehen.”
Er geht mit den meisten Themen immer sehr kühl und rational um. Ich habe schon immer seine Schlagfertigkeit und seine Auffassungsgabe bewundert. Wenn ich etwas Neues erfahre, von wem sonst?
„Wen meinst Du?“ „Schau, heute bestimmt das Kapital die Perspektive. Die Dichter und Denker findest du bei großen Hedgefonds und Konzernen wie Google und Apple. Dort wird das Weltgeschehen im Heute und Morgen bestimmt.“ „Aber, das sind keine Deutschen, oder?“ „Naja“, Erik lacht laut auf, „Doch, Donald Trump hat deutsche Vorfahren und einige andere auch.“

Ich erzähle Erik von einem Interview mit einem der bekannteren AfD-Politikern. Klimapolitischer Sprecher der AfD wird das genannt. Dieser erzählte mir, dass die AfD niemals den natürlichen Klimawandel geleugnet hat, nur den menschlich verurteilten. Anschließend erhielt ich eine Aneinaderkettung von irgenwelchen Studien und Stellungnahmen, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Ich fragte ihn, warum dies eine Rolle spielen würde. Wenn der Klimawandel für alle gesetzt ist, müssten wir gemeinsam alles erdenkliche unternehmen, um zu verlangsamen oder einzudämmen. Es geht um unsere und vor allem die Zukunft unserer Kinder. Eine Antwort erhielt ich damals nicht. Das Interview wurde abrupt abgebrochen.
Erik zeigt die gewohnt gelassene Haltung, wenn ich ihm von meinen beruflichen Erlebnissen erzähle. „So ist das mit dem Populismus. „Du brauchst eben ein Medium, dass deine Version veröffentlicht.
Ich lasse den Kopfhängen und lasse einen kleinen Seufzer entfleuchen, „Ja“.

In der Zwischenzeit bekommen wir die bestellten Leinsamenwraps, mit Grünkern, grünem Curry, gegrilltem Chicken und Quinoasamen, gebracht. Ich lese in der Karte die Beschreibung. “An einem Abend um die halbe Welt. 16 Euro.” Da würde Erik ja auf der Hälfte mit verhungern. Egal, Erik ist vermögend, hat schon früh viel Geld geerbt. Wenn du in der Liga spielst, machst du dir um Geld keine Sorgen mehr. Oder viel mehr? „Lass uns essen“, grunzt Erik mit vollem Mund, als er von seinem Wrap abgebissen hat.

Die Pause kommt mir recht, ich habe Zeit, über Eriks Antwort nachzudenken. Ich habe das Gefühl, dass mein Gehirn sich gerade im Schnellmodus umorientiert. Das Puzzle in meinem Kopf vervollständigt sich etwas mehr und ich spüre, wie mir ein Schauer über den Rücken läuft. Darüber habe ich vorher nicht nachgedacht. Aber das ist eben Erik.
„Was soll ich schreiben, Erik? Was soll ich den Leuten sagen?“ Er grinst. „Schreib, dass es ihre eigene Schuld ist.“
„Und dann?“ „Dann wartest du, bis sie es merken.“ „Ach, hör auf“, fahre ich ihn an, „Was soll aus uns werden? Mit unseren Kindern? Was wird aus Deutschland? Wer soll den Karren noch lenken?“
Erik nimmt seinen letzten Bissen und kaut hektisch. Es ist so wie mit dem ersten Kölsch. Er atmet so ein Teil immer in unter 5 Minuten weg und bestellt sich dann das Gleiche nochmal. So auch dieses Mal.
“Er kann es einfach nicht lassen”, denke ich bei mir. Erik ist verheiratet und hat zwei Kinder, flirtet aber mit jedem kurzen Rock, der nicht bei 3 auf den Bäumen ist. Nach einem kurzen und belanglosen Geplänkel mit sichtlich angetaner Kellnerin, Betty, wie wir gerade erfahren durften, dreht Erik sich wieder zu mir. Für mich ist er brillant. Er hat den Flirt genutzt, um eine Antwort zu formulieren. „Habe ich dir doch gerade gesagt.“ „Aber, wie meinst Du das? „Komm doch mal zum Punkt!“ fauche ich Erik an. Ich merke, wie mich seine obercoole Art aus der Fassung bringt. „Machst Du dir keine Sorgen um Deine Kinder?“
„Ruhig Fury, atme!“ beruhigt er mich mit einer lächelnden und für seine Verhältnisse sanften Ton. „Natürlich mache ich mir Sorgen. Deutschland hat nicht aufgepasst und sich in ein Schlaraffenland für den populistischen Einfluss US-amerikanischer Interessen entwickeln lassen. Schau es dir doch an! Die beiden beliebtesten Parteien sind die Union und die AfD.“ Er macht eine Pause, geht mit der Stimme runter. Angestrengt frage ich nach. „Ja, und?“
„Wer sind denn deren Köpfe? Die Kanzlerkandidaten, querstrich Kanzlerkandidatinnen? Was haben sie vorher gemacht? Die waren Vorstände für einige der mächtigsten Institutionen der USA.“ Seine Worte machen mich nachdenklich. Ich weiß gerade nicht, was ich darauf sagen soll. „Erik, rauchst du noch manchmal Joints?“
Erik schaut mich einen Moment lächelnd an. „Ja. Seitdem es legal ist, habe ich wieder damit angefangen. Willst du?“ „Ja!“

Kapitel 9
Methode: “breit”

Draußen beginnt es zu regnen. Die Tropfen prasseln gegen die Fensterscheiben, als wollten sie uns daran erinnern, dass die Welt da draußen noch existiert.
Ich werfe einen letzten Blick auf mein Notizbuch und bestelle noch ein Bier. Wir gehen vor die Tür. Wir stehen unter die Markise. 

Erik holt eine kleine blaue Dose aus seiner Innentasche. Dann holt er eine seiner Spezialtüten aus der Dose. Er nennt die Dinger Jolle. Wenn er so eine Tüte anzündet, lässt er immer den gleichen Spruch los. Erik nimmt sein Feuerzeug und zündet den Joint an. “Wir lassen die Jolle zu Wasser.“ „Ahoi!“ sagt er laut und versucht dabei die Stimme von Hals Albers zu imitieren. Es gelingt ihm so gar nicht. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ich rolle mit den Augen.
„Medizinisches“, haucht Erik und lässt seinen ersten Zug in die Luft entweichen. „Glaubst du, sie haben uns unterwandert und die Zügel übernommen?“
Eriks Antwort übertönt noch die letzte Silbe meiner Frage: „Es ist so! Auch das, was wir gerade machen, ist gewollt. „Wer kifft, ist ruhiger und geht nicht auf die Barrikaden.“
„Aber, was ist mit den Medien? „Was ist mit der vierten Gewalt?“ Ich merke, wie sich in mir Druck ausbreitet. Ich atme tief und langsam ein und aus, darf mich nicht aufregen. Erik nimmt einen langen Zug und zieht das Zeug tief in seine Lungen. Wenn er kifft, wirkt er immer noch viel gelassener und trotzdem irgendwie scharfsinniger.
„Die vierte Gewalt ist tot!“, sagt Erik, als wäre es das Normalste der Welt. „Wer mit Einfluss und Reichweite ist denn nicht politisch oder transatlantisch beeinflusst?“

„Weiß ich nicht,“ sage ich und zucke mit den Schultern. Erik gibt mir die Jolle und ich nehme einen kräftigen Zug. Ich mag das mal ganz gerne. Sarah und ich machen es auch öfter zusammen. Aber nur, wenn Marie bei einer Freundin übernachtet. Ich spüre sofort, wie das Gras mich beruhigt. Witzigerweise kann ich meine Gedanken jetzt wieder besser sortieren. Ich nehme noch einen Zug und reiche den Joint wieder an Erik.
„Marie hat in der Schule ein Problem mit ihrem Lieblingslehrer”, berichte ich ihm, “sie haben Meinungsverschiedenheiten wegen Palästina und der Staatsräson.“
„Jahaha!“, lacht Erik, „Deine Tochter!“
„Nicht witzig. „Sie schränken ihre Meinungsfreiheit ein.“
„Ja. Auch der zionistische Einfluss ist in Deutschland viel stärker geworden. Hast du schon den neuen Wahlomat getestet? Da kannst du nicht gegen die Staatsräson wählen. Auch nicht für Sanktionen und einen Waffenstillstand in der Ukraine. Ich soll grün wählen. Ich habe gegen Waffenlieferungen nach Israel und in die Ukraine gestimmt. Die Grünen? BSW und die Gerechtigkeitspartei wurden mir nicht mal vorgeschlagen. Das ist ein populistisches Tool, wenn du mich fragst. Erinnerst du dich an deren Statements zur Staatsräson und zu Waffenlieferungen nach Israel?“
Erik zieht die Augenbrauen hoch. „Wir gehen wieder zurück zu unseren Strandkörben.“ Ich fühle mich herrlich entspannt und leicht. Aber ich möchte sitzen. Einfach nur sitzen.
Ich kenne Erik schon mein halbes Leben. Er war immer ein Verfechter des Grundgesetzes und hat viele jüdische Freunde. Er war schon mehrere Male in Israel. Auch im Westjordanland. Im letzten Jahr fand seine Israel-Liebe aber ein jähes Ende. Ich weiß warum. Jeder weiß warum. Seit dem hat er mehrere Demos gegen den Genozid in Gaza mit organisiert, mit einer gemeinsamen Freundin von der Jüdischen Stimme. Da war er kurz wieder der alte Erik.
Ich lehne mich gemütlich in meinem Strandkorb zurück. Nehme ein Schluck Kölsch und essen die übrige Hälfte von meinem Wrap. Erik inhaliert währenddessen seinen Zweiten.
„Nein, Erik, habe ich noch nicht. Den Wahlomaten meine ich. Aber ich werde es heute Abend nachholen.“ Wir sprachen noch einige Biere lang über die Palästina-Demos und die Übergriffe der Berliner Polizei.
Erik berichtet mir detailliert von seinen eigenen Erfahrungen. Das macht er immer, wenn er etwas mehr getrunken hat. Man sollte meinen, so ein Hühne kann ordentlich vertragen. Aber der is ne kleine Muschi, wenn es darum geht. Wir haben früher alle Saufwettbewerbe wegen ihm verloren. Nach unseren Basketballspielen mit der gegnerischen Mannschaft. Erik versucht mich schon lange dazu zu überreden, dass ich über die Palästienser schreibe. Nach zwei weiteren Stunden mit zunehmendem Schwachsinn verabschiede ich mich von Erik mit einem schmerzhaften Shake. Erik möchte noch bleiben. Betty. War ja klar.
Ich gehe ich im strömenden Regen zur U-Bahn und fahre nach Hause. In meinem Kopf kreisen die Gedanken. 

„Endlich Ruhe!“ Ich sitze in unserem Lehnsessel und lasse mich fallen. Ich habe Lust einen zu rauchen. Nichts da. Mist. Jetzt würde ich mich sogar über ein Kölsch freuen. Ich habe Hunger. Zu faul. Sarah und Marie sind im Kino. Hunger. Egal.
Wenigstens habe ich jetzt etwas Zeit ganz für mich. Ich nehme mein Tablet vom Beistelltisch und suche: „Wahlomat 2025“. Ich gehe über verschiedene Browser mehrmals die Fragen durch. Waren das nicht früher immer viel mehr Fragen? Kaum Auswahl. Erik hatte recht.
Ich finde meine Wahl in dem Ding nicht wieder. Ich kann es versuchen, wie ich will. Auch ich sollte meistens die Grünen wählen. Wieso sollte ausgerechnet ich eine Partei wählen, die für die Staatsräson und die Antisemitismusresolution einsteht und vor vier Jahren mit der 1,5°-Lüge um die Ecke kam? „Mit dem Ding wollen sie Erstwähler anzeigen, welche Partei für sie die richtige ist?“ murmle ich vor mich hin. Du hast kaum Optionen und wirst quasi automatisch an eine politische Partei geleitet, die deine Interessen gar nicht vertritt. Im Gegenteil. Ich hole mein Notizbuch hervor und schlage es auf. Ich notiere: „Deutschland, Schlaraffenland für Populisten?“

Kapitel 10
Damals wie heute

Am nächsten Morgen sitze ich in der Wartehalle einer Arztpraxis. Mein Rücken macht mir zu schaffen. Zu viel Sitzen, zu wenig Bewegung. Der Abend mit Erik sitzt mir noch in den Knochen. Und im Kopf. Ich warte seit über einer Stunde. Zeit zu schreiben. Ich bin blockiert. Passiert gerade zu viel. So vieles sortiert sich um. Ansatz fehlt noch.
Ich grübele verträumt vor mich hin. Neben mir sitzt eine ältere Frau mit ihrem Mann. Unweigerlich höre ich mit. Sie unterhalten sich über die vielen Attentate und dass es immer mehr mit den Ausländern wird.

Ich überlege, mich einzumischen. „Heute nicht…“, denke ich zu mir und lehne mich zurück. Einige Minuten später frage ich, „Entschuldigen Sie, junge Frau…“, Sie grinst mich verzückt an, „stört es sie, wenn ich mir eine Bundespressekonferenz anschaue, während wir hier warten?“ „Ich bin Journalist und hänge mit meinen Recherchen hinterher.“ Ich kann es einfach nicht lassen. 

Sie schaut ihren Mann an und bekommt einen Nicker entgegnet. „Uns stört das nicht“, krächzt sie mit freundlicher Stimme. Ganz klar Raucherin. Lange. Ich suche auf meinem Handy in meinem YouTube-Kanal die Konferenz vom 29. November heraus. Da wurden die Haftbefehle gegen israelische Politiker, die Situation in Nahost, die Staatsräson und Antisemitismusresolution aus wissenschaftlicher Sicht behandelt.
Ich starte das Video und stelle es etwas lauter. Ich möchte, dass sie alles hören. Das Video geht über eine Stunde. Während meine Sitznachbarn der Pressekonferenz lauschen müssen, entspanne ich mich. Es tut mir gut zu sehen, wie die beiden entsetzt von den Darstellungen des Videos ihre Gesichter verziehen. “Mein Gott”, stöhnt sie, “Gerhard!” Ich genieße es. Meine Häme gefällt mir gar nicht. Ich lege mein Handy auf meinen Stuhl, stehe auf und schaue mich in der Wartehalle um.

Die Wartehalle ist für eine Arztpraxis auffallend groß. Hohe Gewölbe und ein bestimmt 30 bis 40 Meter langer Raum. Wie ein Flur in einer alten Schule. Überall gehen Behandlungszimmer ab. Alle waren noch mit wartenden Patienten besetzt. Die Wände sind in einem blassen Grün gestrichen, das an Krankenhausflure erinnert. Das alte Paar und ich sind die letzten in der Halle.
Am hinteren Ende entdecke ich einen Fernseher an der Wand. Leise im Hintergrund ist eine dieser Dauersendungen für Arztpraxen zu hören. Ein Politiker, irgendein Dr. med. Das deutsche Gesundheitssystem sei weltweit führend.
Ich muss lachen. Im Hintergrund sieht man Bilder von Menschen, die hustend, schniefend, mit leeren Blicken ins Profil genommen werden. Der Newsticker: „Grippewelle in Deutschland – Arztpraxen und Krankenhäuser überlastet – erste Todesfälle – Champions League: Bayern besiegen Celtic – Lothar Matthäus zum beliebtesten Sportkommentator gewählt…“ wieder Lothar Matthäus. Satire? Das Leben und seine kleinen Episoden.
Ich gehe wieder zu meinem Platz. Die ältere Dame blättert hektisch in einer zerfledderten Ausgabe der Apotheken Umschau und würdigt mich nicht eines Blickes. Ich lese die Schlagzeile: „Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt!“ Ich muss wieder lachen. Die Frau dreht sich angewidert von mir weg. Ich höre sie schniefen. Das Video läuft immer noch. „Machen Sie das aus, meine Frau will das nicht hören!“ grollt mich der Mann mit grimmigem Ton an. „Warum nicht?“ frage ich mit gespieltem Erstaunen. „Weil das Lügen sind”, poltert er.
„Das ist die Bundespressekonferenz. Die Sprecher sind die anerkannten Fachleute. „Alles Professoren für diese Bereiche und von der Bundesregierung bestellt“, ich halte das Video an und schaue zu ihm rüber. Vor mir sehe ich einen Mann, ungefähr Mitte siebzig, mit zornigem Gesicht.
„Machen Sie es einfach aus.“ antwortet er im Befehlston. „Ja, keine Sorge. Kein Grund, unfreundlich zu sein. Wir sitzen doch alle im gleichen Boot.“ versuche ich ihn zu beruhigen. Er wirkt sehr wütend. „Nein!“ Sein Ton wird immer aggressiver. Jetzt dreht er sich weg. Sie starrt mit hängendem Kopf in die Apotheken Umschau. Es ist wieder still. Ab und an ein leises Schniefen. Er zuckt dann immer zusammen. Ich stelle mir Sarah und mich vor, wenn wir in dem Alter sind. Süß. Jetzt tut es mir ein bisschen leid.
Ich sehe, wie seine Frau die Zeitschrift weglegt und ein Taschentuch herausholt. Sie wischt ihre Augen, so als hätte sie geweint. Ich lasse von den beiden ab.
Diese und andere Situationen um mich herum machen mich die letzten Tage traurig. Je weiter ich in den Zustand des Landes und seiner Bürger eintauche, desto düsterer kommen mir die Aussichten vor. Sarah und ich haben uns letztes Jahr schon gegen ein weiteres Kind entschieden. Wir können kein Kind mehr in eine Welt setzen. Davon sind wir beide überzeugt. Das wäre nicht fair für das Kind. Nach zwei Stunden Wartezeit rufe ich mir einen Termin in Erinnerung, den ich heute noch habe. Ein Interview mit einem Arzt, der sich kritisch zum Zustand der Medizin in Deutschland äußern will. Das alte Pärchen wurde mittlerweile aufgerufen und ist gegangen. Ich sitze alleine in der Wartehalle. Wieder mal der Letzte. Mein Magen knurrt. Ich habe Durst. Mir tut alles weh. „Das letzte Bier muss schlecht gewesen sein“, denke ich bei mir. Dann werde ich aufgerufen. Wow. Das Deutsche Gesundheitssystem. Einfach nur wow.

Kapitel 11
Rentenlemminge und Weizenstulle

Ich treffe meinen Interviewpartner in einer dieser neuen Stadtbäckereien. Ich hasse diese Schuppen einfach. Ich habe immer die typischen Bäckereien im eigenen Viertel geliebt. Man kannte sich per Vornamen, das Brot und die Brötchen noch Handwerk und nicht ein fabrizierter Weizenwahn mit zu viel Zucker und Salz. Leider ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. 

Mein Termin wartet bereits auf mich. Er hat sogar einen Tisch ergattert. Macht voll auf Doctore. Trägt einen weißen Kittel, als wolle er seine Ernsthaftigkeit als Arzt unterstreichen. Er wirkt sympathisch, hat ein sehr nettes Lächeln. Ein Sunnyboy-Verschnitt mit schütterem Haar. Sieht aus wie Dr. Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik. Nur nicht so altbacken. „Hallo Herr Doktor, wie geht es Ihnen?” Ich stelle mir ein Remake der alten Serie mit ihm in der Hauptrolle vor. Ich muss mir das Lachen verkneifen. „Hallo Herr Schreiberling,” grinst er mich an. Ich frage ihn, was er trinken möchte und gehe zur Theke.
Die Location ist rappelvoll und es kommt mir vor, als hätte hier ein Bus mit Senioren gehalten. „Brohohohot und Spiehehele, Brohohohot und Spiehehele…“ summe ich vor mich hin. Ich stelle mich in einer langen Schlange an. Ich habe mir mittlerweile abgewöhnt, mich über so etwas zu ärgern. Das ist Berlin. Die Menschen haben nichts aus der Corona-Zeit gelernt. Ich habe zu der Zeit wirklich gehofft, dass dieses typisch deutsche Kuscheln an Supermarktkassen und in Warteschlangen der Vergangenheit angehört. Aber die Leute checken einfach gar nichts. Die alten Menschen waren am Anfang die empfindlichste. Bis sie geimpft wurden. Es kommt mir manchmal so vor, als soll ich denen jedesmal helfen das Geld aus dem Portemonaie herauszusuchen. In manchen Supermärkten denkt man, die spielen da irgendein Tetris-Special auf dem Kassenband. Abstand? Scheißegal.
Eine alte Frau hinter mir in der Schlange wagt sich mit ihrem Gesicht auf meiner Hüfthöhe in meinen Wartebereich, um die Auslage auszukunschaften. Zwischendurch unterhält sie sich darüber mit ihrem Mann. Als wenn der sie bei diesem Lärm hören könnte und ich Luft wäre. Sie lässt sich von nichts beirren und hinterlässt ihren Atemhauch an der Vitrine.
Da, eine leichte Berührung. Ich hasse es. „Die Fleischmagneten sind heute wieder sehr stark eingestellt, junge Frau?!” sage ich im überheblichen Ton. „Ich wusste gar nicht, dass die jetzt auch hier schon haben.” Die Frau schaut mich verwundert an. „Was?“

„Wie bitte…“, murmle ich und antworte dann klar und bestimmt, „die Fleischmagneten, die hier scheinbar sogar im Glas eingelassen sind“. Ich kenne die sonst nur vom Kassenfließband im Supermarkt.“ Die Frau lacht verlegen und hat offenbar nicht verstanden, was ich ihr sagen wollte. Trotzdem. Es hat gewirkt. Jetzt muss ich nicht Angst davor haben, dass sie vielleicht doch noch auf Hüfthöhe in die falsche Richtung abdriftet.

Kapitel 12
Das beste Krankensystem


Als ich endlich an der Reihe bin, bestelle ich einen Americano und einen Cappuccino. „Wenn das zum hier Trinken ist, dann müssten sie bitte bei meiner Kollegin bestellen.“ Ich frage, wo das stehen würde und die Verkäuferin faucht mich mit einem gespielten Lächeln an, „Das habe ich ihnen ja gerade erklärt.” Hinter mir höre ich ein gezicktes Tuscheln, „das weiß man doch!“. Scheinbar die hinter mir doch verstanden, was ich ihr sagen wollte. Wenn Blicke töten könnten.

Eine halbe Stunde später bringe ich stolz einen Café Americano und einen Cappuccino an unseren Tisch und setze mich. „Puhhh,” ich atme tief durch und leite das Gespräch damit ein, dass ich Dr. Altmann eine Schlagzeile über ihn in einem kleinen Tageblatt auf meinem Handy zeige.
„Sie sagten, unser Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps?“ Er seufzt. „Es ist längst kollabiert, nur will es keiner zugeben. „Oder besser gesagt, niemand will es feststellen.“ 

Ich runzle die Stirn. Mir wird immer bewusster, wie sich die Lage in Deutschland verändert hat. Mittlerweile ist das Gefühl bei mir angekommen. Überall die Zeichen, kein Bereich ist davon frei, vom Werteverfall, von dem, was ich mal als typisch deutsch empfand. „Inwiefern?“ frage ich nach. Er nimmt einen Schluck von seinem Cappuccino. „Zunächst einmal war es nie ein Gesundheitssystem. Wenn es um Gesundheit geht, dann vor allem um Prävention und Heilung. Ursachenaufklärung und effektive Bekämpfung. Das ist alles möglich, das zeigen uns etliche andere Länder auf unserem schönen Erdball. Bei uns geht es nur um Symptome und um Profit. Es ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, eine milliardenschwere Interessengemeinschaft. Und ein moderner Sklavenhandel. Unsere Krankenhäuser werden wie rationale Unternehmen geführt. Die Menschen, die dort arbeiten, sind keine Ärzte mehr, sondern BWL-optimierte Roboter. Vom Pflegepersonal mal ganz abgesehen. Und es wird immer offensichtlicher. Wir behandeln keine Menschen, sondern Diagnosen, die Geld bringen.“
„Was bedeutet das konkret?“
„Ganz einfach. Willst Du wirklich Arzt spielen, musst Du Deine Patienten privat behandeln. Oder Du verzichtest auf ein eigenes Haus, einen schicken Wagen und exklusive Urlaube, machst ne Praxis auf und arbeitest mehr für weniger Patte. In Kliniken gehst Du so lange mit, bis Du Oberarzt oder leitender Oberarzt bist. Dann biste am Ziel und bist überall gefragt. Bis dahin: „Blut, Schweiß und Tränen!“
Ich notiere fleißig in meinem Notizbuch und schaue mich danach kurz um. Überall sitzen Menschen im Rentenalter und vertreiben sich, bei Kaffee- und Kuchenpreisen wie in einem exklusiven Restaurant, die Zeit. Kaum jüngere Menschen zu sehen.
„Das Fass ist übergelaufen, richtig?“ „Ja“, sagt er, „das Fass ist längst umgekippt. „Hast du eine der heutigen Volkskrankheiten, wie Bluthochdruck, Adipositas, Arthrose, Herzprobleme oder psychi­sche Diagnosen, dann kommst du in einen Wirtschaftskreislauf und normalerweise auch nicht mehr raus.“
“Wieso kommt man nicht mehr raus?“ „Was ist in anderen Ländern anders und wieso unternimmt niemand etwas dagegen?“
„In vielen Ländern geht es um die Menschen und nicht um die Produzenten von Ersatzteilen und Medikamenten. Es geht uns nicht mehr um Hilfeleistung, sondern um Joberhalt und betriebswirtschaftliche Abläufe in Krankenkassen, Krankenhäusern und auch Arztpraxen. Überall sitzen Betreibergesellschaften hinter und die Hilfeleistung wird budgetmäßig rationalisiert. Allerdings wird mittlerweile wieder mal viel von uns kopiert. Die Geldgeier fliegen global. Für den hypokratischen Hintergrund ist das alles nicht mehr Trumpf. Ich nehme mich da auch gar nicht raus.“
Ich denke nach. Soviel Klarheit von einem erfahrenen Facharzt. Frei raus. Ich nehme meinen Zeigefinger an den Mund. Wie weit muss es schon gekommen sein, wenn das möglich ist. „Aber mein Hausarzt ist anders und auch unsere Kinderärztin. „Die sind sehr einfühlsam und raten eher von Medikamenten ab.“
„Dann haben sie sicher auch keine der vorher genannten Diagnosen, richtig?“
„Ja, das stimmt, daran habe ich nicht gedacht. „Meine Oma haben sie auch die Gesundheit mit Tabletten versaut!“ 

„Das Problem ist, dass das System diese Abläufe schützt und das Ausbrechen daraus unfassbar schwer macht. Wenn du hier Arzt sein willst, dann musst du mitspielen. „Alles andere wird anstrengend und unsicher.“
„Ja”, bestätige ich ihn, “das sehen wir ja eigentlich in allen Wirtschaftsbereichen“. Es geht letztlich nicht um den Menschen. Ein gesunder und zufriedener Mensch ist schlecht für das Geschäft. „Scheinbar geht es nur darum, den Menschen als Ressource für Arbeit, Beiträge, Steuern und Konsum zu nutzen.“ Dr. Altmann zeigt mir mit erstauntem Blick den Daumen hoch.
„Wie gehen Sie damit um?“, frage ich ihn.
„Ich bin auch ein Opfer des Systems. Ich habe mich daran gewöhnt und sitze ebenfalls wie ein Hamster im Käfig. Allerdings habe ich zusammen mit anderen Kollegen mittlerweile eine zusätzliche Praxis aufgemacht und behandle dort ausschließlich Privatpatienten. Immer mehr kommen auch von der Kasse und zahlen freiwillig mehr, um besser behandelt zu werden. Das Geld sitzt in Sachen Gesundheit bei vielen lockerer, als man denkt. Nur so kann ich mir für meine kassenärztlichen Patienten mehr Zeit nehmen. Die Ärmsten unter uns können sich so etwas nicht leisten. Aber die Diagnosen überschwemmen das Land und es ist einfach nicht attraktiv für Nachwuchskräfte, in das Krankensystem einzusteigen. Das System finanziert sich nicht mehr, weil zu viele Einzahler gebrechlich und krank geworden sind. Und das Schlimmste ist, es wird erst etwas getan werden, wenn es zu spät ist. „Wie bei Allem anderen auch.“ Ich räuspere mich. Ein Frosch im Hals. „Darf ich das zitieren, also das alles?“ 

„Natürlich,” antwortet er trocken, “dafür treffen wir uns ja. Ich habe da nichts mehr zu befürchten. Meine Schäfchen sind im Trockenen. Meine Praxen laufen und ich habe einen guten Ruf in meinem Fach. „Ich freue mich, wenn jemand darüber schreibt.“
„Habe ich das richtig verstanden, dass ein Patient mit einer schweren, aber nicht lukrativen Krankheit auf eine Warteliste kommt? „Während ein anderer mit einer Operation, die sich gut abrechnen lässt, sofort behandelt wird?“
Dr. Altmann überlegt kurz. „Ja, das kann man so sagen.“
Ich notiere mir während des weiteren Gesprächs noch viele seiner Worte und nach einer weiteren halben Stunde verabschieden wir uns.
„Eine Frage habe ich noch. Wir hatten vorhin kurz Themen wie Prävention. Was ist damit, und mit Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung? „Wird das nicht ernst genommen?“ Er lacht bitter. „Nur oberflächlich. Alles schlecht für das wahre Geschäft. Man darf auch Pflegebereiche nicht vergessen. Ein riesen Apparat. „Was, wenn denen der Nachschub ausgeht?“ 

Ich schaue auf meine Notizen. Dann auf den Mann vor mir. „Warum tun Sie das alles noch? „Warum steigen Sie nicht aus?“ Er sieht mich mit ängstlichen Blicken an. „Weil ich Angst habe. „Angst davor, dass es keinen gibt, der es besser macht, wenn ich gehe.“
Ich kann ihn verstehen. Ich bedanke und verabschiede mich noch einmal bei Kai, wie er sich mir im Zuge des Gesprächs vorstellte, räume unsere Becher und Tablets in einen der vielen schwarzen Geschirrwagen, die in dem Laden überall herumstehen. Anschließend setze ich mich an einen Tisch in der hintersten Ecke und klappe mein Notizbuch auf. Ich notiere: „Deutschland, Land für Austauschgelenke, Orthopäden und gesichtslosen Patienten!“

Kapitel 13
Neuanfang

Der Wahlkampf geht in die heiße Phase. In Berlin wird die Stimmung immer angespannter. Die Mehrheit will offensichtlich rechts wählen. Ich treffe Paul am Abend. Wir sitzen in einer Bar, früher Kneipe, in der wir schon als Studenten unsere Abende verbrachten. Draußen explodiert ein Feuerwerkskörper. Ein Demonstrationszug zieht durch die Straßen. 

„Es ist so vorhersehbar“, sage ich. „Alle schreien. „Niemand hört zu.“ Paul schüttelt den Kopf. „Du erwartest noch, dass Menschen sich für Fakten interessieren?“ 

Ich lache trocken. „Nein. „Aber vielleicht für ihre Zukunft.“ Er nimmt einen Schluck von seinem Bier. Kein Kölsch. Berliner Privatbrauerei.
„Die Menschen haben keine Angst mehr vor Politikern. Sie haben Angst vor ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit. „Und genau das nutzen die Parteien aus“, philosophiert Paul.
Ich starre in mein Glas. Am Nachmittag überschlugen sich die Schlagzeilen wieder in den Medien. Trump schickt seinen Finanzminister nach Russland und in die Ukraine. Ganz unverhohlen stellt sich der Fokus der US-amerikanischen Interessen heraus. Es geht um Rohstoffe. Um genau zu sein: vor allem um seltene Erden. 500 Milliarden will er. „Genau wie in Gaza“, denke ich mir. In nicht einmal einer Woche hat dieser Typ die Welt in eine andere Farbe getaucht. Die Riviera des Nahen Ostens will er aus Gaza machen. Die Schürfrechte für das Gasfeld gleich mit einbezogen. Zum Ausgleich möchte er das ganze Gebiet räumen und neu aufbauen. Die Palästinenser sollen nach Ägypten und Jordanien vertrieben werden. Alle Befürchtungen und als Schwurblerparolen abgestempelte Parolen von Demonstranten, Fachleuten, weltweiten Politikern, Menschenrechtsorganisationen und UN bewahrheiten sich. Aber es scheint in Deutschland kaum jemanden zu interessieren.
An einem Tisch weiter hinten erkenne ich Bari sitzen. Ich weiß, er soll abgeschoben werden. Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Er sagt, seine einzige Chance sind verurteilte Straftaten, bei denen Deutsche zu Schaden kommen. Die Taliban verschonen wohl verurteilte Straftäter, die aus Deutschland abgeschoben werden sollen. Ich habe versucht, mich da rein zu fühlen. Aber das kannst Du vergessen. Bei dem Rechtsruck in Deutschland sollte man sich dann nicht mehr wundern, wenn solche Menschen sich radikalisieren. Sterben oder radikalisieren. Er wirkt abwesend. Niedergeschlagen. Hat mich nicht einmal gesehen, als er reinkam. So kenne ich ihn gar nicht. Ich wende mich zu Paul.
„Und was jetzt?“ frage ich. Paul zuckt mit den Schultern. „Jetzt wird gewählt. „Dann geht alles weiter wie bisher.“
„Wer wird es?“ Paul zieht die Augenbrauen hoch und prustet los, „der beste Schauspieler mit den skrupellosesten Wahlstrategen!“
Ich kenne Paul wie kein anderer. Er spielt auf die aktuellen Ereignisse der Grünen an. Eine riesen Show um einen Plagiatsjäger, der von einer ominösen Quelle beauftragt wurde, den Kandidaten der Grünen um seine Doktorarbeit zu bringen. Es stinkt nach Opferkult im Wahlkampf. Man versucht scheinbar alles auf der Zielgeraden zu versuchen. Egal wie man es dreht. So ein Medienspektakel um Nichts. Paul fühlt sich durch diese stumpfsinnige Art, Wähler zu manipulieren, mittlerweile sehr oft intellektuell beleidigt und flucht regelmäßig darüber, wie sich die Menschen in unserem Land verblöden und verkaufen lassen. Als säßen wir alle in einer Soap-Opera und würden nur noch auf Verschwörung und Drama reagieren.
Aber auch ich bin am Ende meines guten Glaubens angelangt. Billiger geht’s nimmer. „Ich möchte nicht mehr in Deutschland bleiben“, entgegnet Paul mir in einem für ihn ängstlichen und traurigen Ton. „Das hört sich ernst an, Paulchen“, antworte ich ihm überrascht.
„Ich habe erst überlegt, in die Politik zu gehen. Das bringt aber nichts. Du bist ja nur wertvoll für eine Partei, wenn du das Spielchen mitspielst. Aber ich möchte das Spiel nicht mitspielen, Anton. Ich möchte nicht mitmachen. „Nie wieder ist jetzt, und ich will nicht in einigen Jahren sagen müssen, ich hab’s nicht gewusst oder konnte ja eh nichts dagegen machen.“
„Ich wusste nicht, dass dich das mittlerweile so mitnimmt“, sage ich im fragenden und skeptischen Tonfall, „mir geht es nicht anders. Aber wir dürfen nicht weglaufen. „Wir sollten lieber versuchen etwas zu unternehmen.“
„Anton, was sollten wir noch machen? Unsere Fähigkeiten, mitzumischen, beschränken sich auf die Pressefreiheit. „Was bringt die, wenn die großen Medien die Wahrheiten nicht ohne Einflussnahme übernehmen?“ Paul hat Tränen in den Augen. Ich habe ihn seit langem nicht mehr so erlebt, und ich kann nicht sagen, dass er mich nicht mitnimmt. Ich fühle einen starken Druck im Bauch. Gedanken kreisen. Eine Idee macht sich immer bemerkbarer. Ich öffne mein Notizbuch und starre auf meine Aufzeichnungen.
„Und was jetzt? Frage ich ihn. “Die Gesellschaft ist gespalten“. Das Gesundheitssystem ist kaputt. Die Medien sind nicht mehr unabhängig. Die Menschen leben in Extremen. „Politik ist ein erzwungenes Theaterstück und alle müssen zusehen.” Ich mache eine kurze Pause. “Paul, gibt es noch ein vernünftiges Medium mit Reichweite?“ 

Ich sehe auf die Uhr. Mein Telefon war lautlos gestellt und meine Tochter schreibt mir eine SMS nach der anderen. „Papa, ich möchte eine Website machen. Papa, ich möchte schreiben, kannst du mir dabei helfen? „Papa, kannst du Websites machen?“ 

Ich bestelle einen Schnaps. Auch für Paul. „Wir müssen anstoßen!“
Völlig überrascht verändert er seine Haltung und lehnt sich auf seine Arme gestützt nach vorne. „Warum anstoßen?“
Ich mache eine Pause. Bari ist aufgestanden und wie ein trunkener Schlafwandler an mir vorbei nach draußen gegangen. Ich mache mir gerade große Sorgen um ihn. Ich überlege kurz, ihm nachzugehen. Nein! Jetzt geht es mal um mich. Ich werde ihn morgen anrufen. Ich wende mich wieder Paul zu und gebe ihm ein Lächeln.
„Weil mein kleiner Engel mich gerade auf eine Idee gebracht hat. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Eigentlich ist es ihre Idee und es könnte eine Lösung…oder wenigstens ein Teil einer Lösung sein.“
„Und die wäre?“
„Wir sind doch sehr gut vernetzt und haben einen großen Kreis von einflussreichen Freunden und Bekannten. „Lass uns eine Website machen, lass uns gegen stinken und trotzdem unseren normalen Jobs nachgehen.“
Pauls Gesicht hellt sich auf, er fängt an zu grinsen, „Skol Anton!“
„Auf Marie“, antworte ich und lächle. Ich klappe mein Notizbuch auf und notiere: „Deutschland, das Land des Grundgesetzes und fast unbegrenzter Freiheit!“ Ich klappe das Notizbuch zu. “Ich muss nach Hause”, ich stehe auf und nehme Paul zum Abschied in den Arm. “Ich muss zu meinen Engeln, zu Marie.“ „Feiern.“
“Dann grüß mir die beiden ganz lieb und viel Spaß beim Feiern”, smiled Paul mir entgegen, “ich bin auf jeden Fall dabei!“ „Gib Sarah einen Kuß von mir und sag ihr, wenn sie mal einen vernünftigen haben will…” Er grinst dreckig.
Als ich meine Jacke anziehe bemerke ich, dass Bari seine auf seinem Stuhl liegen lassen hat.  Ich gebe dem Kellner kurz Bescheid und nehme sie mit. Er weiß, dass wir uns gut kennen. Dann muss ich auch nicht mit der Tür ins Haus fallen, wenn ich morgen mit ihm spreche.

Als ich nach draußen komme, zieht wieder der Demonstrationszug vorbei, der nun in die andere Richtung unterwegs ist. Kein Durchkommen. Das kann dauern. Egal. Ich bin viel zu aufgeregt und denke daran, wie ich Marie davon erzähle. Ich sehe sie schon vor mir mit ihrem Lächeln. Langsam hat das Ende der Demo mich erreicht und ich schleiche mit etwas Abstand hinterher. In meinem Kopf nur noch Bilder von mir und meiner Tochter, wie wir zusammen am Laptop an unserem neuen Projekt arbeiten. Ich nehme mein Handy und rufe sie an. Um mich herum die Parolen der Demonstranten. Es tutet. Ich höre hinter mir einen Motor, laut aufheulen, Reifen quietschen. Menschen schreien um mich herum, laufen panisch zur Seite. Ich drehe mich erschrocken um. Ein Auto rast auf mich zu. Ich sehe nur noch die hellen Scheinwerfer vor mir. Ein Knall und ein wuchtiger Schlag. Alles dunkel. Alles still.
“Papa?”…

Nachruf:

Dieser Kurzroman soll Denkanstöße geben – nicht belehren. Er soll Fragen aufwerfen – keine Antworten liefern. In einer Zeit, in der Populismus dominiert, Schlagwörter Debatten ersetzen und Wahrheit zur Verhandlungsmasse werden, möchten wir mit dieser Geschichte auf die gesellschaftlichen Herausforderungen und politischen Kontroversen des Bundestagswahlkampfes 2025 aufmerksam machen.

Unser Mitgefühl gilt all jenen, die unter Krieg, Terror, Hunger und Armut leiden – und ihren Angehörigen, deren Schmerz oft unaussprechlich ist.

Die Geschichte ist offen. Sie soll weitergedacht, weiterdiskutiert und weitergeschrieben werden. Wir laden unsere Leserinnen und Leser herzlich dazu ein, eigene Ideen und Fortsetzungen beizusteuern. Was bleibt nach der letzten Seite? Das liegt in eurer Hand.

Fragen, Anregungen, Kritik: mail@ganzheitlich.online