Zwischen Marathonqual und innerer Stille

Ich sitze im Park in Lübeck, die Sonne wärmt mein Gesicht, während um mich herum der Frühling in seiner vollen Blüte den Start ins Wochenende abzurunden versucht. Heute allerdings in einer besonders eindringlichen Form: Teilnehmer eines 6-Stunden-Laufs ziehen unermüdlich ihre Runden um mein Idyll herum. Was für die einen nach sportlicher Höchstleistung aussieht, entpuppt sich für den aufmerksamen Beobachter als ein Kampf mit dem eigenen Körper, eine Demonstration von Willenskraft gepaart mit einer erschreckenden Ignoranz der eigenen Grenzen.

Plötzlich reißt ein Schrei die monotone Geräuschkulisse auf. Ein Mann mittleren Alters, schätzungsweise etwas jünger als ich, bricht zusammen, sein Körper windet sich in schmerzhaften Krämpfen am Boden. Er ist das, was man landläufig als „durchtrainiert“ bezeichnen würde, Muskeln und Sehnen scheinen beinahe freigelegt, kein Gramm Fett am Oberkörper zu sehen. Doch mein Blick fällt reflexartig auf seine Diabetes-Pumpe. Instinktiv eile ich zu ihm, um zu helfen. Während er vor Schmerz schreit, stellen wir fest, dass sein Messgerät eine Störung hat. Sein krampfhaft geöffneter Mund offenbart weitere, tiefgreifendere Probleme: stark angegriffene hintere Zähne, blau verfärbtes Zahnfleisch – ein erschreckendes Spiegelbild seines scheinbar so disziplinierten Ernährungszustands. Ein Mann Anfang vierzig, austrainiert bis zur Erschöpfung, und doch gezeichnet von den Folgen einer inneren Disharmonie. Er selbst war sich dieser Situation in seiner Mundhöhle nicht bewusst und konnte den Ernst dessen nicht nachvollziehen. Lieber auf zur Nächsten entsprechenden Herausforderung der internationalen Läufergemeinde.

Immerhin bricht er das Rennen ab, sein Körper beginnt langsam zur Ruhe zu kommen, während ich ihm mit meiner speziellen Mischung aus Wasser, Mineralien und Vitaminen aushalf. Doch die brutale Tortur, die sich manche Menschen heutzutage antun, um einer oft unklaren inneren Leere zu entfliehen, ist erschreckend. Dieser Mann hätte vor vielen Jahren eine psychosomatische Beratung und Begleitung gebraucht. Die Symptome lagen buchstäblich offen auf der Straße, und eine frühzeitige Intervention hätte ihm sicher viel Leid ersparen können. Ich spürte seine Erleichterung, als ich mit ihm Tacheles redete, seine Situation nicht beschönigte und auch die mangelhafte Organisation des Rennens ansprach. Er bedankte sich mehr als zehn Mal bei mir, obwohl auch andere ihre Hilfe angeboten hatten. Ich hatte ihn gesehen, in seiner Gesamtheit, nicht nur als einen kollabierten Läufer und er hat dies scheinbar gespürt.

Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, kehrte ich zu meiner Matte zurück, setzte mich wieder in den Schneidersitz. Die Szene wirkte in mir nach, verband sich mit meinen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. In meinem Blickfeld sah ich zwei mir bekannte Personen, die vermeintlich Qigong praktizierten. Ihre Bewegungen wirkten aus fachlicher Sich fehlinterpretiert, weit entfernt von dem Fluss und der inneren Verbindung, die die durch dei gewählten Übungen auszeichnen sollte. Ich erkannte Teile einer Form, die mir schon sehr früh in meinem Leben geläufig war, das Baduan Jin oder auch 8 Brokate genannt. Diese beiden Pole – die selbstzerstörerische Härte des verbissenen Leistungssports auf der einen Seite und die oberflächliche Nachahmung uralter Bewegungskünste auf der anderen – inspirierten mich zu diesem Beitrag. Es ist mein Ruf nach einem tieferen Verständnis, nach einer Verbindung von Körper, Geist und Energie, jenseits von kurzlebigen Trends und selbstzerstörerischen Mustern. Es ist mein Leben mit Qi, mehr als nur Bewegung, ein Weg der Heilung und der Erkenntnis, den ich gerne teilen möchte.

Mein ganzes Leben lang tanze ich mit meinem Qi, meiner ureigenen Lebensenergie. Was als intuitive Wahrnehmung begann, entwickelte sich in meinen jungen Erwachsenenjahren zu einer bewussten und tiefgreifenden Auseinandersetzung. Ich sog alles auf, was mit Bewegung in Verbindung stand, tauchte ein in die vielfältigen Welten der Kampfsportarten und Bewegungskünste. Unzählige Stunden verbrachte ich damit, die Interpretationen anderer Menschen über Qigong, Yoga, Kung Fu und ihre zugrundeliegenden Philosophien zu studieren. Doch für mich gab es nie eine starre Trennlinie zwischen diesen Disziplinen, andere behandelten diese aber eher in Schubladensystemen und wirtschaftlich geprägten Stilen. Parallel dazu suchte ich immer den modernen, wissenschaftlichen Zugang, lernte, studierte, experimentierte, lehrte und ließ mich in unterschiedlichsten Bereichen ausbilden. Besonders tief tauchte ich in die faszinierende Welt der Faszien und ihrer vielfältigen Verbindungen ein, erkannte die zugrundeliegende Einheit aller Bewegung. Was mir dabei mehr als nur bewusst wurde und in Fleisch und Blut überging: “So lange ich bin, ist auch mein Qigong.” Die  Arbeit mit der Lebensenergie endet nicht, wenn man normalerweise denkt eine spezielle Form erlernt oder zum Beispiel ein spezielles Studium erfolgreich abgeschlossen zu haben. Ständige Entwicklung ist der tiefere Sinn, bis ich nicht mehr bin. 

Und was soll ich sagen? Meine eigene Reise ist der beste Beweis für die transformative Kraft dieses ganzheitlichen Ansatzes. Chronisch durchgetretene Füße, Arthrosen in beiden Sprunggelenken, Asthma, Haarausfall, chronische Rücken- und Kopfschmerzen, eine übermäßige Anfälligkeit für Infekte, Adipositas – all diese Herausforderungen konnte ich durch meine Herangehensweise Schritt für Schritt zurückentwickeln, bis ich in sämtlichen Bereichen wieder befundfrei war. Eine Erfahrung, die meine tiefe Überzeugung in die Selbstheilungskräfte des Körpers nur noch verstärkte.

Früher, als extrem ambitionierter Basketballer, Kickboxer, Läufer und Kraftsportler glaubte ich, topfit zu sein. Dann kam das Loch und mit ihm die vorgenannten Diagnosen. Das war vor fast 20 Jahren. Heute, mit fast 50 Jahren, bewege ich mich spielerisch, funktional und verfüge über eine Energie, Dehnbarkeit und Kraft, eine Selbstverständlichkeit die ich mir vor über zwei Jahrzehnten nicht einmal erträumt hätte. Damals suchte ich Rat bei führenden Lungenfachärzten und Orthopäden meiner Region, klammerte mich an ihre Expertise, in der Hoffnung auf Linderung. Heute bin ich dankbar, dass sie sich in ihren Prognosen so umfassend geirrt haben. „Nie wieder Basketball, nie wieder Kickboxen, nie wieder Fußball oder Jogging, nur Walken, Schwimmen, Yoga und ähnliches“, hieß es damals nach einer Odyssee mit ärztlichen Diagnosen und chronischen Schmerzen. Eine düstere Prophezeiung, die sich glücklicherweise nicht bewahrheitete.

Doch schon damals regte sich in mir eine tiefe Skepsis. Ich spürte instinktiv, dass es mehr geben musste als die begrenzten Antworten der Schulmedizin. So forschte ich in internationalen Studienergebnissen, suchte den Austausch mit sogenannten Meistern der verschiedenen asiatischen Bewegungskünste, die damals nochhauptsächlich in esoterischen Sphären verortet wurden. Mein Weg führte mich bereits seit ich 12 war durch eine beeindruckende Vielfalt an Systemen: Shutokan-Karate, Judo, Jiu-Jitsu, Wing Chun, Shaolin Kung Fu, Tae Kwon Do, RSF, Thai-Boxen, Kali, Kickboxen, Taijiquan, Jeet Kune Do, MMA, Krav Maga, Sanda, verschiedene Kung Fu Stile. Ich sammelte Einblicke und Erfahrungen in verschiedensten Yogaarten, Qigong-Formen und Pilates, trainierte mit Großmeistern, Weltmeistern und anderen rennomierten Lehrern . Überall stieß ich auf künstliche Abgrenzungen: gegenüber anderen Kategorien, anderen Philosophien, anderen Formen. Alles wirkte oft stark kommerziell strukturiert, als ginge es mehr um die Marke als um die Essenz. Dabei erkannte ich immer deutlicher: Im Kern ist alles Qigong – die bewusste Arbeit mit der eigenen Lebensenergie.

Was aber ist Qigong wirklich? Die einfache Übersetzung liefert die befreiende Antwort: die Arbeit mit der eigenen Lebensenergie. Nicht gegen oder mit anderen Philosophien, nicht spezifisch asiatisch, sondern genau das, was unsere Vorfahren in den Höhlen Europas, Amerikas und Afrikas bereits praktizierten. Das bewusste und intuitive Arbeiten mit dem, was uns physisch und geistig ausmacht, was unsere Energien beeinflusst. Die Luft um uns, der Atem, der in uns ein- und ausströmt, die Nahrung, das Wasser, mit dem wir trinken, uns waschen, in dem wir baden und schwimmen. Das Innere und Äußere, alles, was für uns Energie bedeutet und dessen Bedeutung einem stetigen Wachstum, bzw. Entwicklung unterliegt – ein Wachstum, das niemals abgeschlossen sein wird, solange wir mit unserer Lebensenergie arbeiten, solange wir Qigong praktizieren. Es ist die universelle Sprache des Körpers, die über kulturelle Grenzen hinweg verbindet und zwischen dem Äußeren und dem Inneren Balance, Harmonie erarbeitet.

Das wahre Ziel im Qigong sollte immer der Weg selbst sein. Der Weg der Entwicklung, des Wachstums, der Effektivität. Je weniger Energie wir für etwas verschwenden, desto effektiver ist es. Doch hier liegt oft ein tiefgreifendes Missverständnis. Viele assoziieren innere Balance und Effektivität des Seins mit sanften, oberflächlichen Bewegungen, die im Außen gerne als typischer Qigong- oder Yogastil wahrgenommen werden. Aber das greift zu kurz und verkennt die dynamische Natur der Energiearbeit. Qigong hat nicht primär mit jahrhundertealten, teils stark verwässerten asiatischen Formen zu tun, deren ursprüngliche Tiefe und Orientierung oft dem westlichen Blick verloren gegangen ist. Das heutige Wissen über den menschlichen Körper, die Messbarkeit kleinster Prozesse, die Erkenntnisse der Physik, Biochemie, Neurobiologie und insbesondere der Faszien- und Stressforschung haben wenig mit dem gemein, was der Mensch zur Entstehungszeit dieser sogenannten Stile und Formen über sich wusste. Wir leben in einer Zeit des wissenschaftlichen Fortschritts, der unser Verständnis von Bewegung und Energie in den kleinsten Ebenen und Teilchen revolutioniert hat.

Heute wissen wir, dass nicht-funktionelle Bewegungen Reibung erzeugen, so dass Energie in ihrem Fluss gestört wird, durch Widerstände Ressourcen verschwendet werden. Sämtliche Studien über vermeintliche Energieleitbahnen und Leichtigkeit in der Bewegung müssten eigentlich einer natürlichen Faszienlogik weichen, die die Vernetzung und Spannungsverteilung im Körper berücksichtigt. Natürlich glauben viele, sich leicht zu bewegen, wenn sie Wasser aus dem Fluss schöpfen oder Übungen des Baduan Jin oder verschiedener Yogastile nachahmen. Hauptsache, das äußere Bild stimmt mit der medial vermittelten Vorstellung überein. Dabei handelt es sich oft lediglich um Interpretationen auf dem jeweiligen Stand der Zeit, losgelöst vom tieferen Verständnis der zugrundeliegenden Prinzipien. Die Philosophien dahinter waren nie so starr und abgegrenzt, bis sie in die westlichen Gefilde gelangten und dort trendmäßig in die Wirtschaftskreisläufe kapitalistischer Systeme eingegliedert wurden, wo sie oft ihrer ursprünglichen Tiefe beraubt wurden. Aus Yoga wurde in westlichen Gefilden ein zertifizierter Lehrberuf mit unterschiedlichen Verbänden, Lehrbüchern und Ausrichtungen. 

Auch Kung Fu ist von dieser Entwicklung betroffen. Für den Europäer ist Kung Fu oft primär mit Kampf und Kampfsport verbunden. Dieses oberflächliche Denken dringt zunehmend auch in asiatische Nationen vor, eine bedenkliche Verwestlichung macht sich breit. Traditionell aber ist Kung Fu aber harte Arbeit und entsprechend erlernte, also erarbeitete Fähigkeiten. Also etwas, dass man durch große eigene Erfahrung, durch harte Arbeit und die Kultivierung innerer Qualitäten erreicht hat – die Meisterebene sozusagen. Dabei ist es unerheblich, ob man putzt, kocht, Gartenarbeit macht oder sich auf den Kampfsportmatten dieser Welt bewegt. Harte Arbeit wird als untrennbare Kombination körperlicher und geistiger Anstrengung verstanden, und Kung Fu ist die meisterliche Ebene dieser Arbeit, die in jeder Tätigkeit zum Ausdruck kommen kann. Also ist auch Kung Fu im Grunde Qigong. Ob das, was einige praktizieren, tatsächlich Kung Fu ist, bleibt oft im Auge des Betrachters. Ich kenne zum Beispiel viele Trainer unterschiedlicher Kampfsportarten, aber wahres Kung Fu habe ich dabei nur bei sehr wenigen erlebt. Wer Kung Fu betreibt achtet nicht nur auf das Arbeitsergebnis, sondern auf sich, seine Umgebung, Nachhaltigkeit usw. Im Kampfsport dominiert dagegen ein zu großer Fokus auf das westlich definierte Fitnesssystem, auf Muskeln und Wettbewerb, das Äußere, während das individuelle Innere, Verbindungspotenziale und vor allem Entwicklung, Öffnung und energetischer Fluss zu kurz kommen. Hier klafft eine große Lücke zwischen dem äußeren Schein und der inneren Substanz. 

Das große Problem, das ich beobachte: Überall in Deutschland suchen Menschen in Parks, Fitnessstudios und Vereinen nach dem Besonderen und tauchen dabei allzu oft in abgegrenzte Schubladen voller Esoterik ein. Diese Schubladen schmücken sich heutzutage gerne mit modernen Begriffen, um das Marketing für typische „Komfortopfer“ perfekt abzurunden. Das amerikanische und deutsche System haben im letzten Jahrhundert die Welt erobert und ein erschreckendes Ergebnis hinterlassen: Arthrose, Diabetes, Adipositas, chronische Schmerzen, psychische Erkrankungen, chronische Stressbelastungen und vieles mehr. Wer in den 90er-Jahren „Wall-E – Der Letzte räumt die Erde auf“ gesehen hat, erkennt heute erschreckend viele Parallelen in unserer zunehmend bewegungsarmen und von Konsum getriebenen Gesellschaft. In meinen eigenen Kursen und Einzelcoachings habe ich jedoch gemerkt, dass die Angst vor dem Verlust dieser scheinbaren Komfortverströmungen oft größer ist als der tief verwurzelte Wunsch nach universellem Fühlen, schmerzfreien Bewegungen und wahrer Lebendigkeit. Wenn es nicht einfach ist, nicht in den gewohnten Ablauf und die gängigen Systeme passt, wird es abgelehnt. Geduld und Bewusstsein für die eigene Lebenszeit? Nur sehr selten ein Thema. Das Paradoxe daran: Die meisten Menschen machen genau diese Systematik für ihre Probleme hauptverantwortlich, wollen aber auf die daraus entstandenen Gewohnheiten nicht verzichten. Entweder es geht schnell und leicht, oder man bleibt im gewohnten Trott – ein Teufelskreis, der uns immer weiter von unserer natürlichen Balance entfernt.

Es funktioniert ähnlich perfide wie in der Lebensmittelindustrie. Man muss nur eine „gesunde“ Haltung auf die Verpackung drucken, eine ausreichend große Lobby schaffen, die passenden Marketingslogans und einen coolen Namen kreieren – Faszienqigong, Faszienyoga, Lach…, Achtsamkeits…, Stressless… oder Schlaf… – und schon tappen die überlasteten und suchenden Menschen in diese Falle. Dabei geht es vor allem darum, nicht zu invasiv und nicht zu anstrengend zu sein, die Illusion von Mühelosigkeit zu verkaufen. Meistens turnt dann eine spezielle Marketingfigur vor einer Gruppe, und alle anderen versuchen, es nachzumachen, ohne die inneren Prozesse wirklich zu verstehen oder zu fühlen. Von wahrem Einklang im Innen und Außen keine Spur, auch wenn viel darüber gesprochen wird. Es ist eine oberflächliche Nachahmung ohne tiefe Verbindung.

Heute versuche ich über ein eigenes Konzept, “MyQigong”, Menschen von Kopf bis Fuß ganzheitlich zu coachen und ihnen beizubringen, wie sie zu ihrem eigenen Qigong zurück finden. Denn viele von uns haben den eigenen Weg erst im Kindesalter verlassen und nur wenige haben ihn später wiedergefunden. Das Übel fängt oft bei den Füßen an und endet bei den Finger- und Haarspitzen. Der innere Stress entwöhnt den Menschen bereits vom natürlichen, vernünftigen Gang. Schuhe mit abgesetzten, stark gedämpften Fersen hindern uns an der vollständigen Nutzung unserer körpereigenen Abroll- und Federfunktionen. Die Menschen denken nicht einmal darüber nach, Hauptsache, irgendein Dr., oder ein Bestsellerautor, oder ein Spitzensportler hat gesagt, dass es gut „sein könnte“. Ich nutze deswegen in meinen Coachings gerne eine kurze, verbindende Fiktion: „Stellt euch vor, ihr wäret zurück in den frühen 80er-Jahren. Euer Arzt sagt euch, dass ihr ab sofort nicht mehr normal nach Dingen greifen dürft. Zuerst müsst ihr den Handballen auf eine feste Unterlage hauen und dann zu den Fingern hin abrollen, um den Gegenstand zu erreichen und ihn dann zu umschließen. Erst dann dürft ihr ihn bewegen, sonst ist das nicht gesund. Und um euch dabei nicht am Handballen zu verletzen, kauft ihr euch die neuesten Handschuhe – am Handballen abgefedert, mit einer dicken Schaumstoffschicht, mit Nike- oder Adidas-Logo und in allen erdenklichen Designs. Solche Handschuhe gibt es für Handwerksarbeiten, Hausarbeiten, Bürotätigkeiten usw., praktisch für jede Art von Handbewegungen. Würdet ihr dem Arzt das glauben? Einige vielleicht, aber den meisten würde diese Ideologie zu weit gehen.“ Genau so war es aber mit den Füßen, und eine ganze Generation von Sportlern, Therapeuten und Ärzten ist diesem unnatürlichen Prinzip gefolgt, haben wiederum andere Menschen angeleitet. Dabei kann der Mensch heute alles selbst herausfinden, wenn er bereit ist, seine eingefahrenen Gewohnheiten zu hinterfragen. 

Beim Gehen fängt Qigong doch schon an – die bewusste Verbindung zum Boden, die natürliche Abrollbewegung. Wer einmal barfuß über spitze Steine, Steine im flachen Wasser oder einfach nur rückwärts geht, wird schnell merken, dass er niemals über die Ferse abrollen würde. Aber fast jeder hat es genau so gemacht, und die Folgen sehen wir heute in den unzähligen Fehlstellungen und Beschwerden des Bewegungsapparates. Während ich diesen Beitrag in einem Park schreibe, rennen regelmäßig Teilnehmer des 6-Stunden-Rennens an mir vorbei. „Rennen“? Humpeln würde bei dem überwiegenden Teil  der Teilnehmer eher passen. Eine Gruppe unzufriedener Menschen organisiert einen gemeinsamen Lauf, um sich besser von sich und ihrem Alltag abzulenken, anstatt die tieferliegenden Ursachen ihrer Unzufriedenheit anzugehen. Wer ein bisschen Ahnung von Biomechanik hat, zuckt bei jedem einzelnen Schritt der meisten Läufer zusammen, und die Nackenhaare kräuseln sich. Während die Menschen früher Briefmarken sammelten, sind es heute Arthrosen und andere Diagnosen, die stolz präsentiert werden. Man kann nicht vor sich und den unumstößlichen Wahrheiten der Natur davonrennen. Und anstatt sich den gesamten Tag immer ein bisschen mehr mit dem Wunderwerk des Menschen, dem Gehirn und etwas intrinsischer Motivation auseinanderzusetzen, sich immer weiter ein Stück zu verbessern, quält man sich eben in exzessive Ablenkungen. Das beginnt schon damit, wenn man den herabschauenden Hund nicht über Jahre fachlich sauber entwickelt, sondern in einem Yogakurs nachäfft, den man von dem absoluten Profi für Ernährung und Bewegungstrainings, dem Hausarzt oder Orthopäden, empfohlen bekommen hat. Profi?! Na klar, denn diese Ärzte haben sogar oft einen Doktortitel. In der Realität sind sind Ärzte aber meist nicht die Fachkräfte für diese komplexen Themen und stehen, insbesondere entlang der deutschen Kassenstatuten, eher auf der Seite der Symptombehandlung als auf der Seite der Ursachenbekämpfung. Hier braucht es dringend eine neue Form der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Trainern, Therapeuten und fachlich versierten Coaches, um die Systeme wieder mehr fließen und sich verbinden zu lassen.

Wichtig beim Qigong ist die Einheit, die Balance, die Harmonie, die gleichmäßige Verteilung der Spannung, die feine Wahrnehmung zwischen Fußspitzen, Fingerspitzen, Rumpf und vor allem Kopf, bis in die Haarspitzen. Nur bei der bewussten Reflexion und Integration dieser Elemente kann ganzheitlich mit der Energie im Inneren und Äußeren gearbeitet werden. Egal, was man gerade tut. Man fängt dabei sehr sanft an, mit nur wenig bewusster Wahrnehmung und spürbarer Wirkung, denn die tiefgreifenden Veränderungen entwickeln sich mit der Zeit, mit dem kontinuierlichen Tun und Fühlen. Aber auch diese Geduld und die Bereitschaft zur Selbstreflexion fehlen den meisten Menschen, die ich in diesem Zusammenhang kennenlertne. Sie waren dermaßen in Schubladengewohnheiten und entsprechenden Mustern gefangen, dass sie oft nicht einmal an den Wunsch herankommen, diese abzuschaffen oder kritisch zu hinterfragen. Dabei war dies nie vorgesehen, zumindest nicht in der ursprünglichen deutschen Kultur der Selbstverantwortung und des gesunden Menschenverstands. Der transatlantische Einfluss hat über Jahrzehnte diese menschliche Schwäche, die Verantwortung für sich selbst zwischen den Schubladen abzugeben und die Komfortangebote nur als zusätzliche Möglichkeiten und Werkzeuge zu verstehen, schamlos ausgenutzt und in eine andere Richtung manipuliert. Der „American Way of Life“ war nie gut für tiefe menschliche Werte und ist mittlerweile auch über Afrika und Asien hinweggeschwappt, wo er ähnliche negative Auswirkungen zeigt. Dort gab es in vielen Regionen bis vor wenigen Jahrzehnten keine chronischen Rückenschmerzen oder gar massenhaftes Übergewicht usw.

Dabei wäre es für uns in Europa, besonders in Deutschland, eigentlich ein menschliches Schlaraffenland, wenn diese extremen Beeinflussungen von Übersee nicht so dominant in unser Leben gelangt wären. Diese üppigen Sozialsysteme, diese komfortablen Möglichkeiten gab es in den USA nämlich nicht in dieser Form. Und so hätten wir uns im Zuge des deutschen Wirtschaftswunders wunderbar aus den Traumata und weiteren Abgründen der Kriegs- und Nachkriegszeiten herausentwickeln können – wenn nicht viele Entwicklungen bereits durch entsprechende Wirtschaftshilfen und die daraus resultierenden Verknüpfungen vorprogrammiert gewesen wären. Dieses Spielchen gilt bis heute, und somit wird aus einem Beitrag zum Thema Qigong, Yoga und Co. auch etwas Politisches – die Lebensenergie macht keinen Halt vor Yin und Yang, egal in welchem Bereich. Es geht in der deutschen Politik nicht um nachhaltige menschliche Entwicklung, es geht nicht um Ursachenbekämpfung, nicht um echtes menschliches Miteinander, Verbindung und Wachstum, nicht um tiefe Menschlichkeit, sondern allzu oft darum, dies einzudämmen und wirtschaftlich kontrollieren zu können. Ein gesunder, selbstverantwortlicher Mensch bringt weniger Umsatz als ein Mensch mit diversen Baustellen. Wenn die Menschen dann auch noch viel Geld dafür bezahlen, dass die Wirtschaft an ihren Problemen verdienen darf, ist der Teufelskreis nahezu. Wenn dann noch die Ablenkungen vielfältig aufgebaut sind und selbst ernannte Profis nur noch in Followern und Likes fachlich bewertet werden, dann ist die Welt der Scheingesundheit und Scheinmenschlichkeit perfekt.

Ein Ausweg wären die asiatischen Philosophien, Bewegungskünste usw. auf jeden Fall gewesen – wenn diese denn auch entsprechend akzeptiert worden wären und nicht durch wirtschaftliche Eingliederung und bestehende westliche Muster eingeordnet und ihrer Tiefe beraubt worden wären. Qigong kann heute von jedem ganz einfach begonnen werden. Man braucht hierfür nicht viel Anleitung, um den Startknopf zu drücken und wieder in die Selbstverantwortung zurückzuwachsen. Und man muss dafür auch nicht auf irgendeinen echten Komfort verzichten. Ganz im Gegenteil gehört zum Qigong auch die bewusste Arbeit mit all dem, was uns umgibt. Die Realität ist aber leider anders. Und während ich nun diesen Artikel zu Ende geschrieben habe, musste ich im Umkreis von fünf Metern vier Personen bei Bewegungstrainings zusehen, die einige sicher als Yoga bezeichnen würden. Ich bezeichne das nur als digitale Anleitungen, wie man schnellstmöglich psychosomatische Probleme erreichen oder erweitern kann und sich dabei auch noch bestätigt und besonders „gesehen“ fühlt – die Quittungen sind oft erst viele Jahre später spürbar. Es ist an der Zeit, wieder hinzusehen, hinzuspüren und die Verbindung zu unserer ureigenen Lebensenergie, unserem Qi, wieder aufzunehmen – für eine wahrhaft gesunde und selbstbestimmte Zukunft.

Es geht nicht darum, schneller zu werden. Oder schöner. Es geht darum, wahrhaftiger zu werden. Alles andere ergibt sich von selbst.

Weniger kopieren. Mehr fühlen. Weniger rennen. Mehr ruhen. Weniger Marke. Mehr Mensch. Vor allem Du.

Qigong ist kein Luxus. Es ist eine Notwendigkeit. Schon immer. Gerade heute.

Wenn du also das nächste Mal jemanden rennen siehst – oder selbst stundenlang im Kreis läufst – frag dich doch mal: Laufe ich weg? Oder laufe ich nach Hause?

Der Unterschied liegt nicht in der Strecke.
Er liegt in deinem Qi. “Namaste”, oder was auch immer die Trendsetter zum Abschluss sagen. Aber denkt auch bei der Verbeugung daran, dass das Qi niemals schläft.

GO ganzheitlich.online – Ihr ganzheitliches Portal für Gesundheit, Balance und persönliche Weiterentwicklung. Profitieren Sie von redaktionellen Beiträgen rund um Körper, Geist und Seele, individuellen Onlinecoachings, Workshops, Gruppencoachings und Seminaren im gesamten deutschsprachigen Raum sowie persönliches Coaching, Beratung und Training bei dir vor Ort.

Aktuell bieten wir Vor-Ort-Coachings in folgenden Orten an: Hansestadt Lübeck – Kreis Ostholstein: Stockelsdorf, Bad Schwartau, Ratekau, Ahrensbök, Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Neustadt in Holstein, Eutin, Malente, Oldenburg in Holstein, Grömitz, Heiligenhafen, Burg auf Fehmarn, Dahme – Kreis Segeberg: Bad Segeberg, Wahlstedt – Kreis Stormarn: Reinfeld, Bad Oldesloe, Elmenhorst, Bargteheide, Trittau, Großhansdorf, Ahrensburg – Kreis Herzogtum Lauenburg: Mölln, Ratzeburg, Sandesneben, Berkenthin, Groß Grönau, Mustin – Kreis Nordwestmecklenburg: Lüdersdorf, Schönberg, Dassow, Rehna, Gadebusch, Grevesmühlen, Klütz, Boltenhagen